Meine Mutter war immer der Meinung, man muss alles einmal ausprobieren. Sonst kann man nicht meckern.Am 30. Dezember machte ich mich um 11.30 Uhr auf den Weg zur Handelskammer, zur Versammlung des Ehrbaren Kaufmanns. Die hat eine uralte Tradition. Der jeweilige Präses – derzeit Fritz Horst Melsheimer – hält jeweils eine Rede mit grundsätzlichem Charakter – Jahresschlussansprache genannt.
Ich war in meiner Eigenschaft als Vizepräsidentin eingeladen. Da ich an diesem Treffen noch nie teilgenommen hatte, mich aber die Grundsätze meiner Mutter sehr geprägt haben, habe ich mich angemeldet. In der Einladung stand, dass für mich ein Platz in der ersten Reihe reserviert sei. Brächte ich eine Begleitung mit, säße diese in der zweiten Reihe. Ich kam allein.
Ich wurde zunächst in den Kolumbus-Saal geleitet, in dem ich jede Menge bekannter Gesichter sah: Die üblichen Verdächtigen aus der Bürgerschaft, der Hamburger Redaktionen, des Senats, kirchliche WürdenträgerInnen. Die Sicherheitsleute von Olaf Scholz kenne ich nun auch schon. Es gab Sekt und Saft, der NDR filmte, Abendblatt und BILD fotografierten. Nach einer viertel Stunde Smalltalk klatschte jemand in die Hände. Wir gingen wie eine Schulklasse eine Treppe hinunter und kamen in den Hauptraum, den Börsensaal. Nacheinander nahmen wir unsere Plätze ein. Mein Platz war recht weit hinter, aber immerhin noch vor den Kirchenleuten. Das sind die Pfeffersäcke konsequent.
Über 2.000 Menschen, überwiegend männlich, fast alle wie ich in Schwarz gekleidet, saßen auf weißen unbequemen Holzklappstühlen. Da halfen auch die dünnen Kissen, die auflagen, wenig. Etliche der Teilnehmenden, die in meinem Blickfeld waren, rutschten während der Hauptrede mit eingeschlafenen Pobacken hin und her.
Ich hatte mit einer konservativen Rede gerechnet. Mit Angriffen auf soziale Errungenschaften und einer Verteidigung der Marktwirtschaft. Mit einem Lob der Schuldenbremse und einem Gejammer über Bürokratie und Steuern. Mit Forderungen nach besseren Möglichkeiten, Profite zu machen. Das alles war auch in der Rede mehr oder weniger enthalten. Also erwartungsgemäß.
Was mich einigermaßen fassungslos machte: Über eine Stunde schaffte es Melsheimer, nicht über Menschen zu sprechen. Die Rede bekam erst menschliche Züge, als er über Jugendliche und ihre Schulabschlüsse sprach.
Das Publikum klatschte ab und zu. Besonders wenig Applaus erhielt Melsheimer für seine Aussagen zu Frauen im Management und dass gemischte Teams besser funktionierten. Hinter mir sagte einer: „Das klappt nicht.“ Großen Applaus bekam der Präses, als er die gesetzliche Quote für Vorstände ablehnte. Der Mann hat Humor: Die Handelskammer ist zwar eine Zwangsvereinigung, aber eine Zwangsquote will er nicht.
Als die Versammlung des Ehrbaren Kaufmanns beendet war, verließen alle zügig die Handelskammer. Täusche ich mich: Ich hatte den Eindruck, sie konnten nicht schnell genug wegkommen.
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