Kersten Artus

Natürlich ist der Verfassungsschutz (VS) auf dem rechten Auge blind. Allein schon deshalb, weil er nach dem Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens weiterhin V-Leute innerhalb der NPD bezahlt. Neulich sagte mir eine junge Frau, sie hätte immer gedacht, dass der VS V-Leute einschleuse. Sie war baff, als sie jetzt erst wahrnahm, dass Neonazis angeworben und großzügig für Spitzeldienste entlohnt werden. Ich glaube, ihr Wissen einte sie mit der Mehrheit der Bevölkerung. Dies dürfte auch mit ein Grund sein, dass die Empörung so groß ist.
Auf dem Schweigemarsch am Sonnabend in Hamburg-Altona fanden politisch sehr, wirklich sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Sie einte Trauer und Wut. Die Morde der Nazis und die Verstrickungen des VS dabei müssen aufgeklärt werden, die Rolle des Verfassungsschutzes gehört hinterfragt. Nicht nur des thüringer. Welchen Sinn machen V-Leute, wenn sie keine Morde stoppen können? Wie wichtig ist deren Tarnung, wenn sie Morde hätten verhindern können?
Es geht aus meiner Sicht nicht nur um das konkrete Versagen. Es geht darum, die These aufzuwerfen, dass eine Institution, die auf Staatskosten (sinnlos) spitzelt, ihre Existenzberechtigung völlig verspielt hat.
Auf der Website des Bundesamtes für Verfassungsschutz steht: Die jeweils Regierenden werden vielfältig in ihrer Macht kontrolliert: Von Parlament, Opposition, unabhängigen Gerichten, von der öffentlichen Meinung und nicht zuletzt von den Wählern. Alles selbstverständlich?
Selbstverständlich nicht. Der VS wird nicht demokratisch kontrolliert, sondern vor kritischen FragerInnen gut geschützt. Wir erhalten im Parlament nur wenige Auskünfte über seine Arbeit. Wir Linken sowieso nicht, weil wir nicht dem Parlamentarischen Kontrollausschuss angehören.
Ich habe mich als Jugendliche und auch später noch oft gefragt, was eigentlich in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDG) steht. Dass da nichts drin steht, weil es sie als Text gar nicht gibt, hat mich erstaunt. Der VS muss sich die Frage gefallen lassen, ob er die neun Säulen der FDG sehr unterschiedlich gewichtet. Welchen Status haben die Menschenrechte, der Schutz des Lebens beim VS?
Die Menschen in diesem Land sind in Wut. Die Finanzmärkte spielen mit dem gesellschaftlichen Reichtum Casino, Griechenland wird von Ratingagenturen aufs Schafott geführt, Hartz IV demütigt und entrechtet, der Verkauf des Gesundheitswesens reduziert das wichtigste, was der Mensch hat, auf eine Ware, der Osten schafft auch nach über 20 Jahren den Anschluss an den Westen nicht.
Freie Wahlen, Rechte der Opposition, Gewaltenteilung – prima, aber immer mehr Menschen wird das zunehmend egal. Naziideologie greift als Alternative. Rassistische Morde passen nicht in das geleckte Bild der Bürgerlichen von einem freien Deutschland. Aber sind sie nicht auch das Ergebnis von ausländerfeindlichen Einreise- und Asylbestimmungen, die einem Nützlichkeitsrassismus zugrunde liegen?
Dass Nazis trotz Verfassungsschutz jahrelang morden konnten, lässt berechtigte Zweifel aufkommen, ob die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausreichend geschützt wurde. Es ist offenbar nötig, die Gesellschaft vor dem Verfassungsschutz zu schützen. Er hat mehr als versagt. Er hat sich ad absurdum geführt.