Meine Weihnachtsgeschichte

Weihnachtsgeschichten heißen nur so, weil sie an und um Weihnachten geschehen sind. Erst seit wenigen Jahrzehnten bestehen Weihnachtsgeschichten aus Herzschmerz und Wundern. Ich will eine Geschichte erzählen, die mir kurz vor Weihnachten passiert ist.

Es ist so, dass man auch im großen Hamburg Leute trifft und dann denkt: Was ist die Welt doch klein. Es sind Leute, die man lange nicht gesehen hat. Manchmal weiß man den Namen nicht mehr. Manchmal nicht einmal mehr, woher man jemanden kennt und wann man ihn das letzte Mal gesehen hat.

Ich gehöre diesbezüglich zu der Kategorie „Schau weg“. Weil ich manchmal nicht mehr weiß, wie die Person heißt und woher ich sie kenne, schaue ich weg. Ich möchte die peinliche Situation vermeiden, nach dem Namen zu fragen. Oder schlimmer noch: Mich geirrt zu haben.

So was passiert natürlich immer dann, wenn man nicht damit rechnet. Wie sollte das auch anders sein.

Am Freitag bin ich nach Altona gefahren, um auf dem Weihnachtsmarkt in der Ottenser Hauptstraße und im Mercado nach Geschenken zu stöbern. Richtung Altona muss ich auch immer, wenn ich einen Zahnarzttermin habe. Seit Monaten müsste ich mal wieder in die Praxis, weil oben zwei Füllungen heraus gefallen sind und unten das Zahnfleisch an der Krone links leicht entzündet ist.

Nächste Woche, schwor ich mir – wohl schon zum zehnten Mal – nächste Woche, gleich nach Weihnachten, rufst du da an.

Ich ging auf dem Weihnachtsmarkt spazieren, ich schaute mich im Mercado um und fand drei Nettigkeiten für die Kinder, zwei Bücher, ein Paar Ohrringe.

Auf dem Weihnachtsmarkt gab es auch einen Burgunderschinken-Stand. Und weil das Mittagessen schon ein paar Stunden her war, weil ich als Kind immer gern Burgunderschinken im Brötchen vom Stand gegessen hatte, und weil das jetzt schon viele Jahre her ist, kaufte ich mit eines.

Die eigene Kindheit hole ich mir jedes Jahr an Weihnachten zurück. Frühere Rituale und Ereignisse, Düfte und Geschmäcker sind Weihnachten immer sehr präsent. Weniger die Geschenke. Außer das rote Fahrrad, das ich einmal bekam.

Eher denke ich an das gemeinsame Fondue, an die choralen Lieder, den rot-goldenden Baumschmuck, der sich mit dem lila-silbernen abwechselte, die Vollheit der Kirche, die falschen Kerzenlichter am Baum, die jeden Morgen von meiner Mutter mit einem Dreh an einer der Kerzen von ihr angemacht wurden. Und einmal fackelte der große Adventskranz ab, als ich mit meiner Mutter allein gewesen war.

Burgunderschinken im Brötchen gab es zwar nicht speziell Ende Dezember, aber was früher geschah, kumuliert sich an Weihnachten. Es sind die Tage, an denen das pralle Kindheitserinnerungs-Paket geöffnet wird.

So kann ich mich an Weihnachten auch sehr gut an die Sommerferien und Urlaube in Spanien erinnern. Oder an das Ostern, zu dem ich meinen Lieblingsstofftierhasen Jonny geschenkt bekam.

Der Burgunderschinken schmeckte lecker. Der einzige Unterschied zum Genuss von damals: Teile des Roggenbrötchens blieben dort hängen, wo die Füllungen fehlten. Ich holte ein Holzstäbchen aus meiner Tasche. Als ich in die S-Bahn einstieg, setzte ich es an und …

Schräg gegenüber saß ein Mann, dessen Gesicht ich erkannte. Das heißt, der, von dem ich glaubte, dass er es hätte sein können. Aber sicher war ich mir nicht. Hinüber stieren? Besser nicht, nachher denkt der sich noch was. Ich setzte mich also hin. Da rief es schon von Gegenüber: „Kersten?“

Es sind Momente wie diese, die nicht in dein Leben passen. Ereignisse, die zum verkehrten Zeitpunkt geschehen. Jemanden zu treffen, den man lange nicht gesehen hat, dem man nichts zu sagen hat, den man völlig aus der Erinnerung gestrichen hat. Jemand nicht so Wichtiges. Wie so viele Menschen, denen man im Laufe des Lebens begegnet, die einen eine Zeitlang begleiten und dann wieder verschwinden.

Ich schaute hinüber und nickte überrascht. Den Zahnstocher steckte in in meine Manteltasche. Andreas stand auf, kam herüber und sagte beim Hinsetzen: „Darf ich mich neben Dich setzen?“

Von Altona aus sind es nur zwei Haltestellen bis Sternschanze, wo ich aussteigen musste. Es ist erstaunlich, was zwei Haltestellen lang jemand erzählen kann. Und da Andreas die schnelle, effektive Art der Konversation beherrscht, weiß ich jetzt vieles Neues von ihm.

Mit meinem Abschiedssatz „Wir werden uns bestimmt mal wieder über den Weg laufen, lass es Dir gut gehen“, sprach ich einen ehrlich gemeinten Dank aus, dass ich die Zeit, aus der ich Andreas kenne, aufgefrischt hatte. Unsere gemeinsame Zeit als Kollegen, den traurigen Abschied durch seine Kündigung und das Kündigungsschutzverfahren, das ich als Betriebsrätin begleitet hatte.

Ich weiß jetzt, dass es ihm und seiner Familie gut geht und dass er wieder Arbeit hat. Viele derjenigen, die ich durch diese krisenhafte Situation der Kündigung begleitet habe, sehe ich nicht wieder. Und diejenigen, die ich wieder sehe, geht es nicht immer gut.

Als ich auf dem Bahnsteig stand, freute ich mich daher, dass Andreas mich angesprochen hatte. Und darüber, dass ich mich endlich mit dem Zahnstocher von den Roggenbrötchenresten befreien konnte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert