Perspektivenwechsel: Ein Besuch bei wohnungslosen Frauen in Hamburg

dsc_6737Die Kartons stehen so bereit, als stände ein Umzug bevor. An den Wänden hängt ein Bild. Ein Schrank steht in dem Zimmer, ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Ein Waschbecken ist hinter der Tür in die Wand eingebaut. Darunter lagern bestimmt 15 Flaschen Putzmittel. Auf dem Tisch stehen Lebensmittelpackungen, in der Ecke ein Twelve-Pack mit 1,5-Liter-Flaschen Cola.

Die Frau, die die Tür zu diesem Zimmer geöffnet hat, trägt einen Schlafanzug, wir haben sie durch unser Klopfen geweckt. Ja, sie kommt gleich zum Frühstück, sagt sie.

Ich bin zu Besuch in der staatlichen Unterkunft für wohnungslose Frauen in der Notkestraße, Nähe Trabrennbahn. Ich habe die Frauen eingeladen, mit mir Franzbrötchen und Joghurt zu essen. Es gibt zwei Fachfrauen, die hier arbeiten. Unterkunfts- und Sozialmanagement.

Der 21. November ist der Aktionstag Perspektivenwechsel. Initiiert von der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege rufen der Paritätische, die AWO, die Diakonie, das DRK und andere auf, Hamburg mit anderen Augen zu sehen. Vor zwei Jahren habe ich bereits daran teilgenommen. Damals war ich in einem Wohnhaus für junge, psychisch kranke, Frauen, das vom Sozialdienst katholischer Frauen in Altona betrieben wird. Mein Bericht dazu ist hier nachzulesen.DSC_6733

Wir sitzen an einem großen Tisch, es gibt Tee und Kaffee, ich reiche die Franzbrötchen mit einer Serviette und wasche Löffel ab, damit jede einen Joghurt essen kann. Dann setze ich mich dazu und erfahre: 52 Plätze hat die Notunterkunft, doch die durchschnittliche Verweildauer beträgt sechs Jahre. Etliche Bewohnerinnen gelten als psychisch krank – sie haben Wahnvorstellungen oder Schizophrenie. Viele bedürfen einer Begleitung und Hilfestellung, haben auch gesetzliche BetreuerInnen. Einige haben Süchte, manche Mehrfacherkrankungen. Pflegedienste helfen dabei, weiterhin eigenständig zu leben. Zwei Drittel der Frauen sind über 50 Jahre alt, einige schon über 70.

Die Stimmung am Tisch ist lustig: Das Hauptthema sind Männer. Es sind zum Teil erfundene Geschichten, manche ganz schön derb, manche sind Erinnerungen von früher. Eine Frau erzählt mir wiederholend von ihrem Mann, mit dem sie aber nicht verheiratet sei und der Verabredungen nicht einhalte. Mit dem sie aber schönen Sex habe. Sie hat auch Blumen zum Frühstück mitgebracht. Als sie mir davon erzählt, dass sie keine Winterschuhe habe und ich sie nach ihrer Schuhgröße frage, kippt die gute Laune, sie reagiert aggressiv: Ob ich denn glauben würde, sie könne sich keine Schuhe leisten? Ich schlängele mich aus dem Dialog heraus.

DSC_6747Ich bekomme noch mehr Einblicke, darf noch mehr Zimmer sehen. Die Toiletten, Duschen und eine Badewanne sind auf dem Flur. Frauenmotive hängen an den Wänden. Es duftet nach Shampoo. Ich darf in eine Wohnung, die nebenan in einem Häuserblock per Mietvertrag an eine mittellose Frau vermietet wurde. Hier lebt auch eine Katze, in der Ecke steht ein Kratzbaum und ein Kuschelkörbchen. Auch hier stehen Kartons herum. Es steht aber auch hier kein Umzug bevor.

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Jede zweite Frau, erfahre ich, neigt zur Vermüllung und Verwahrlosung. Die beiden Fachfrauen passen so gut es geht auf die Frauen auf: halten die Bewohnerinnen zum Aufräumen an und besuchen sie regelmäßig. Es wird immer geklopft oder geklingelt. Unerlaubt dürfen sie nur eintreten, wenn Gefahr in Verzug ist, höre ist. Jede Frau wird respektvoll behandelt. Einige lehnen aber jede Hilfe ab, was das Zusammenleben in der Notkestraße manchmal erschwert. Neulich ist eine Wohnung ausgebrannt. Die Bewohnerin hatte Zeitungspapier auf den Herd gelegt. Monatelang hatten die Mitarbeiterinnen auf die schwierige Frau hingewiesen, aber niemand ist eingeschritten.

Ich schenke Kaffee nach, reiche noch Joghurts. Die Gebisse einiger Frauen sehen schlecht aus. Manchen fehlen vorne Zähne. Ihre Kleidung ist abgetragen. Wir reden über Kemenate, der einzigen Tagesobdachlosenstätte, die nur für Frauen öffnet und in Eimsbüttel liegt. Dort gibt es eine Kleiderkammer. Meine Sitznachbarin kommt ins Schwärmen, was es da für tolle Sachen gibt. Ich stimme ihr zu, ich kenne die Kleiderkammer. Eine andere Frau schimpft, wie furchtbar sie Kemenate findet. Sie lacht dabei. Es ist die Selbe, die sich mit mir wegen ihrer Schuhe anlegen wollte.

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Ich besichtige noch den Neubau, hier entstehen 50 weitere Plätze für wohnungslose Frauen. Der Bedarf ist da. Es gibt zu wenige Wohnungen in Hamburg, die bezahlbar sind. Es gibt zu viele kranke, alleinstehende, Frauen, um die sich niemand richtig kümmert. Ihre Lebensleistung ist vergessen, auch von ihnen selber. Eine würdevolle Lebensphase und ein liebevoller Umgang mit ihnen ist das Mindeste, was diese Frauen benötigen.

Ich verlasse gegen Mittag das Gelände und fahre zurück in mein Büro, tauche wieder in meinen Alltag ein. „Können wir die Fotos haben, die Sie gemacht haben?“, wurde ich gefragt? Na klar, jede bekommt eines davon.

 

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