Eine Lesung mit Tine Wittler? Der RTL-Ulknudel, die anderen Leuten die Wohnung – mehr schlecht als recht – eingerichtet hat und die wegen niedriger Quoten aus dem Programm geflogen ist? Diejenige, die gegen den Nichtraucherschutz zu Felde gezogen ist und als Demonstration ihre eigene Kneipe schloss?
Doch, ich gehe hin. Weil die Veranstaltung von Waage e.V. initiiert und mir gesagt wurde, dass ihr Buch „Wer schön sein will, muss reisen“, gar nicht so blöde sei. Und ich erfahre, dass Tine Wittler eine der Prominenten ist, die essgestörten jungen Frauen ihre Stimme geliehen hat, um ihre Geschichte zu erzählen. Dazu gibt es auch Podcasts, Nina Hoger und Katja Riemann sprechen auch. Alles keine Frauen, die ich besonders mag. Was ich mag, ist ihr Engagement für Essstörungen.
Vor der Bücherhalle Altona, die im Mercado im zweiten Stock untergebracht ist, warten schon einige Frauen, als ich ankomme. Die Lesung ist echt gut besucht, nicht nur Frauen sind gekommen. Es müssen noch Stühle herangeschafft werden.
Tine Wittler rauscht an, ist gut gelaunt, grüßt kumpelhaft. Die Lesung beginnt. Sie erzählt mehr, als sie liest, aber das ist okay, denn ihr Buch soll ja noch gekauft werden. Sie erzählt, wie die Idee zum Buch entstanden sei: Die Protagonistin ihres neuen Romans sollte nach Mauretanien reisen, um dort das Schönheitsideal der runden Frauen zu ergründen – und um sich mit ihrer eigenen Körperlichkeit auseinanderzusetzen.
Daraus wurde nichts, denn Wittler musste auf Vorschlag ihres Verlages selbst hinfahren. Daher wurde es ein Reisebericht – und eine Reise in eine fremde, auch gefährliche, Welt.
Die ZEIT hat Tine Wittler dafür kritisiert. „Zuviel Kamelmilch getrunken?“, fragte die Wochenzeitung und lederte die Autorin dafür ab, dass sie über „Sklaverei, Menschenhandel, Prostitution und Genitalverstümmelung“ kein Wort verlöre. Das mag für den Film, der parallel ebenfalls gedreht wurde, vielleicht stimmen, aber die ZEIT verliert auch kein Wort darüber, dass die brutale und lebensgefährliche Zwangsmästung von Frauen eine völlig unterbelichtete systemische Gewalt gegen Frauen ist. Vor allem unser weißer Eurozentrismus weiß gar nichts darüber. Dass die Mauretanierinnen heute meistens Hormonpillen nehmen, statt in der „Gavage“ gemästet zu werden, die eigentlich für die Tiermast gedacht sind, lässt uns alle gruseln. „Die Frauen explodieren förmlich.“, berichtet Wittler. Manche stürben daran. Die Pillen würden selbst während Schwangerschaften geschluckt.
Ich erlebe eine Schriftstellerin, die sehr wohl die Gesamte Situation der Frauen in Mauretanien im Blick hat. Ihre erste Frage an das Publikum lautet: „Wer weiß, wo Mauretanien liegt?“ Nur wenige heben die Hand. Typisch Europäer, denke ich, irgendein Land in Afrika eben. Wittler weiß über das Land Bescheid. Und sie hat – der ZEIT-Text verschluckt das – sich mit Menschenrechtlerinnen getroffen und hebt diese in Buch und Film auch hervor. „Die Öffentlichkeit ist deren Schutz“, sagt Wittler. Und sie hat Recht. Allein damit hat sie einen wichtigen politischen Beitrag geleistet. Von chinesischen Dissidenten lesen wir viel. Aber von mauretanischen?
Ich sehe es in den Gesichtern und an den Figuren der Menschen im Publikum: Viele der Zuhörenden sind bei Waage im Gespräch gewesen oder sind es noch, so wie ich auch einst. Und daher ist es für uns an dem Abend wie in einen Spiegel gucken. In unseren Breitengraden ist eine schlanke Frau schön. Diesem Ideal streben Millionen Frauen zu und nehmen sich selbst nicht mehr wahr. Hunger, Durst, persönliche Stärken, unser liebenswertes Ich – alles wird einem pervertierten Körperbild unterworfen. Trotzdem sind wir kein Häuflein Elend, wir kennen unsere Krankheit und leben mit ihr.
Wittler erzählt, wie selbstbewusst auch die Mauretanierinnen seien. Dass sie sich nicht als Opfer sehen. Das ist geeignet, unser Bild von den geschundenen, unterdrückten, verstümmelten afrikanischen Frauen durcheinander zu werfen. Und wieder lässt sich ein guter Vergleich ziehen: Auch wir führen Opferdebatten, die nicht selten zur Stigmatisierung einer ganzen Personengruppe beitragen. Auch das werte ich als wichtigen Verdienst, der Wittler über Deko-Ideen und Kneipiersinteressen hinaus anzuerkennen ist.
Waage e.V. hatte also eine echt gute Idee: Tine Wittler einzuladen und die Podcasts mit Stimmen von prominenten Frauen aufzunehmen. Sie geben einen Einblick in die Qualen, die Frauen – zu 90 Prozent sind Essstörungen eine Frauenthematik – ertragen. Und die ihnen Lebensfreude und Gesundheit nimmt. Die aber zugleich hoffnungsvoll in die Zukunft sehen – und nicht mehr Opfer sein möchten. Es ist ein respektvoller Beitrag zu der epidemischen Krankheit, der sich die ZEIT eigentlich auch mal widmen könnte.
Am Ende sind wir uns einig: Wir sollten alle endlich mal die Klappe halten. Und zwar dann, wenn Frauenkörper mal wieder bewertet werden. Sei es im Zwiegespräch, in fröhlicher Lästerrunde, im direkten Gegenüber.
Und ich gehe nach Hause und finde einmal mehr, das unser Land mehr Feminismus braucht. Ich möchte endlich eine Gesellschaft, in der Frauen nicht mehr vorgeschrieben wird, wie sie auszusehen haben.
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